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Könnte es mehr geben zwischen Himmel und Erde, als wir ahnen? Gab es einmal alte Völker, deren Bünde noch heute wirken?

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Du bist dir sicher, noch nie zuvor gelebt zu haben.

Oder?

 

Stina Kurz ist sich ganz sicher, dass es so etwas wie Reinkarnation nicht gibt. Doch den Augen, die sie schon ihr Leben lang sieht, die einfach auftauchen, um dann genauso zauberhaft wieder zu verschwinden, will sie dennoch auf den Grund gehen. Was sie dann jedoch erlebt, stürzt sie in Gefühle nie gekannter Angst aber auch tiefer Liebe. Um zu bestehen, muss sie lernen, mit Kräften umgehen, die die Grenzen des Lebens und der Zeit zu sprengen scheinen.

 

Wie gesagt, Stina glaubte nie an Überirdisches, bis zu jener Nacht im Mai, als sie ihrer Vision persönlich gegenübersteht…

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306 Seiten

Taschenbuch
15,00 €  Gratis Lieferung
Ebook kindl
6,99 € 

Leseprobe

 

 

 

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»Ich sehe Häuser, alte Fachwerkhäuser. Sie stehen dicht aneinander in einer Landschaft aus Hügeln und Wald. Alles ist grau und kahl. Zwischen den Waldstücken sind Äcker, mit Schnee bedeckt. Ein Feldweg mit Reifenspuren schlängelt sich durch die Landschaft.«

»Wo sind Sie?«

»In einem kleinen Dorf. Ich sehe vielleicht sechs oder acht Häuser. Es sind alles Bauernhöfe mit großen Scheunen und Ställen. Sie sind alt, teilweise sehen sie ganz schön heruntergekommen aus, abgeplatzte Farbe, heruntergefallener Putz, Löcher im Mauerwerk, windschiefe Hütten, da hängt ein Dach halb von einem Stall herunter. Es stinkt nach Tieren und Misthaufen. Ich höre Kühe und Schweine. Rauch hängt in der Luft und kalt ist es, ich kann meinen Atem sehen. Trotzdem rinnt mir der Schweiß von der Stirn.«

»Warum?«

»Weil ich so schnell renne. Ich glaube, ich werde verfolgt.«

»Von wem?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wie heißt der Ort?«

»Hm,… Husen….., Goßlingshusen! So heißt er.«

Ich nehme meine Stimme wahr, die schläfrig und dunkel klingt, ich höre mich selber wie durch einen Schleier. So entfernt, als würde ich mir selber eine Geschichte erzählen.

»Was sehen Sie noch, schauen Sie sich um!«

»Am deutlichsten sehe ich ein Haus, das am Ende einer Gasse steht. Es ist das letzte Haus vor gefrorenen Wiesen, schneebedeckten Feldern und dem Wald dahinter. Hinter dem Haus führt eine schmale Holztreppe zum ersten Stockwerk. Ein Brunnen steht auf der Wiese zwischen der Treppe und der dahinter angrenzenden Scheune. Vor der Haustür im Haupthaus geht eine Treppe hoch, wie bei einem alten Schulgebäude, die man von zwei Seiten begehen kann.«

»Was machen Sie?«

»Ich renne durch den Hof zur Haustür. Ja, ich werde definitiv verfolgt. Der Boden ist rutschig, ich muss aufpassen, dass ich nicht hinfalle. Immer wieder schaue ich mich um, vor Angst und Anstrengung rast mein Herz. Die hetzen mich! Ich kann die Männer schon sehen und hämmere mit den Händen gegen die grobe Holztür, rufe einen Namen.«

»Mach doch auf, mach doch auf! …..Udo!«, »Immer wieder drehe ich mich um. Nun sehe ich sie schon die Anhöhe zu den Höfen heraufkommen. Ich habe solche Angst! Ich löse mich von der Haustür, renne in die Scheune und suche nach einem Versteck.«

»Was dann?«

»Dann werde ich gefunden.«

»In welchem Jahr sind Sie?«

»Im Winter des Jahres 1353.«

 

»Kommen Sie wieder ins Hier und Jetzt, ins Jahr 2023. Sie kommen langsam wieder hierher zurück, spüren die Liege unter Ihrem Körper, spüren Ihre Arme und Beine, nehmen Ihren Atem wahr und kommen ganz langsam und in Ihrem eigenen Tempo zurück in diese Wirklichkeit, in diese Zeit, in diesen Raum.«

Diese unendlich ruhig gesprochenen Worte drangen in mein Bewusstsein und bremsten meine Gedanken und Bilder abrupt ab. Es war, als sauste ich wie in einem Karussell im Kreis und nun wurde mein Kreiseln ad hoc gestoppt. Mein Magen zog sich zusammen.

»Ich glaube, für das erste mal ist es genug, nicht wahr?«, hörte ich die Stimme wieder. »Bewegen Sie ihre Hände und Füße, räkeln Sie sich, nehmen Sie ein paar tiefe Atemzüge und kommen Sie mit jedem Atemzug mehr zu sich und hierher zurück.«.

Es war die Stimme von Frau Rüttgers, der Therapeutin, die mich sanft aus der Dämmerung meiner Gedanken wieder ins Licht zurückholte.

Es dauert eine Weile, bis ich mich völlig orientieren konnte. Was ich eben erlebt hatte war so intensiv und beeindruckend gewesen, dass es mich noch ganz in seinen Bann zog. Aber ich war unendlich erleichtert, mich auf der Liege in der Praxis wiederzufinden.

»Ja, das ist genug.«. Ich überlegte, wie ich das, was ich eben erlebt hatte, einordnen sollte. Spielte mir meine Fantasie einen Streich? Mein Herz raste und pochte bis in meinen Hals, als wäre ich wirklich gerade um mein Leben gerannt! Auf meiner Stirn standen echte Schweißperlen und meine Hände zitterten. Dabei hatte ich die ganze Zeit auf dieser Liege hier gelegen und es gab überhaupt keinen Grund, Angst zu haben. War ich aus einem Albtraum erwacht? Aber es war so realistisch! Auf was hatte ich mich da bloß eingelassen.

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ooo

 

Alles hatte damit begonnen, dass meine Kollegin Svenja und ich beste Freundinnen wurden. Das erste Mal in meinem Leben vertraute ich jemanden so sehr, dass ich sogar den Mut fand, ihr von meinem Geheimnis zu erzählen. Ein Geheimnis, dass unheimlich war, aber lange noch nicht so unheimlich, wie das, was dem folgen sollte. Seit fünf Jahren arbeiteten wir im gleichen Reisebüro und fast eben so lange waren wir unzertrennlich. Sie kannte mich besser, als sonst irgend jemand.

Sie war es auch, die mir den Vorschlag machte, in diese Praxis hier zu gehen. Lange, nachdem ich ihr von meinen Begleitern, dem Augenpaar, erzählt hatte.

Ich wusste nicht, ob sie die Geschichte von Anfang an ernst nahm, aber sie unterstützte mich in meinen Bemühungen, diesen Augen auf den Grund zu gehen.

 

Meinen Augen.

 

 

Wie soll ich das Phänomen beschreiben? Die Augen waren eben einfach da. Mal an der Wand, auf die ich gerade schaute, an einem Fenster oder Möbelstück. Manchmal schwebten sie einfach neben mir, nicht nur zu Hause, auch unterwegs, beim Spazieren gehen, im Zug oder im Auto. Auch bei Freunden in deren Wohnungen. Meistens verschwanden sie nach ein paar Minuten genauso zauberhaft wieder, wie sie gekommen waren. Die Augen waren lebendig, sie bewegten sich, blinzelten und verfolgten mich bei meinen Bewegungen. Ich konnte mich an Momente erinnern, da standen in ihnen sogar Tränen. Seit dem wusste ich, dass sie sogar mit mir fühlten. Sie gehörten einfach zu mir. Seit ich mich erinnern konnte, waren sie von Zeit zu Zeit einfach da. Sie schauten mich an, interessiert, liebevoll. Es waren große, dunkle Augen. Ich hatte vor ihnen nie Angst gehabt. Ich glaubte lange Zeit, es sei ganz normal und jeder Mensch hätte solche Begleiter. Wie hätte ich als Kind darauf kommen können, dass es anders sei? Wenn ich meinen Eltern davon erzählte, lachten die nur.

Als ich etwa zehn Jahre alt war, erzählte ich meinen Freunden und Klassenkameraden davon. Und ich bekam zu spüren, was es bedeutete, anders zu sein. Sie hielten mich für eine Lügnerin, für eine Wichtigtuerin, und ich wurde ausgelacht. Und so gewöhnte ich es mir sofort wieder ab, darüber zu reden. Für die anderen geriet es wieder in Vergessenheit. Aber nicht für mich - das Augenpaar blickte mich immer noch an.

Erst als ich viele Jahre später Svenja traf, vertraute ich mich wieder jemandem an: Ich wusste, dass sie mich ernst nehmen würde und ich wusste, dass sie Übernatürliches und Unerklärliches für möglich hielt. Zusammen philosophierten wir schon so manches mal darüber, was es mit den Augen auf sich haben könnte, wandten uns sogar an das Institut für paranormale Erscheinungen, die allerdings der Meinung waren, das sei gar nicht so unnormal, wie es auf den ersten Blick erscheint. Von dieser Seite gab es also auch keine Erklärung.

Svenja war es auch, die mich dazu brachte, mit einem Psychotherapeuten darüber zu reden. Und dann mit einer Schamanin. Aber zu einer weiterführenden Therapie ist es nie gekommen, vielleicht, weil ich zu feige dazu war. Schließlich hatte ich nie Probleme mit meinen Augen.

Es war März, an meinem Geburtstag. Svenja kam nach der Arbeit bei mir vorbei. Wir öffneten eine Flasche Sekt und warfen uns auf mein Sofa.

»Jetzt sind wir wieder gleich alt!«, sagte Svenja lachend, die bereits vor fünf Monaten ihren Geburtstag gefeiert hatte.

»Ja, und das Jahr mehr scheint mir gar nicht so schlimm zu sein.«.

Dieser Rest des Abends lud zum Philosophieren ein und irgendwann landeten wir wieder bei meinem Augen. Svenja sprühte nur so von Energie und guten Ideen.

»Vor kurzem habe ich von dem möglichen Einfluss früherer Leben auf das jetzige gelesen. Und es gibt Therapeuten, die können einen in Trance versetzen und dann kann man sich an frühere Leben erinnern! Das ist ungefähr genauso gruselig, wie deine Augen. Vielleicht hat das was miteinander zu tun? Das solltest du mal ausprobieren.«, schlug sie mir vor.

»Ich weiß nicht…«, entgegnete ich, »ich mag so was nicht.«

»Aber du willst doch auch dahinter kommen, was sie bedeuten!«

»Ja schon, aber…«

Konnte ich Svenja etwas abschlagen? Nein. Also landete ich ein paar Wochen später im 3. Stock eines Berliner Altbaus, in einem angenehmen Raum, hellgelb marmorierte Tapeten mit bunten tibetischen Gebetsfahnen, braunen afrikanischen Masken, bunten Sitzkissen auf einer antiken hölzernen Bank und einer so bequemen Liege aus rotem Samt, von der ich später, im Laufe der Sitzungen, nur ungern aufstand. Die Therapeutin begrüßte mich freundlich, sie sah nett und gar nicht so abgefahren aus, wie man sich eine Therapeutin für Reinkarnation vielleicht vorstellen würde. Genauso hätte sie auch meine Hausärztin sein können, oder eine Steuerberaterin. Na ja, eher Lehrerin. Sie trug weder bunten Gewänder, noch besaß sie einen durchdringenden, allwissenden Blick, Federn im Haar oder sonstiges. Statt dessen ein sympathisches »Hallo, schön, dass Sie den Weg hierher gefunden haben!«, ein fester, Vertrauen erweckenden Händedruck und ein langes Einführungsgespräch, das mir die Angst vor der bevorstehenden Sache ein wenig nehmen konnte.

»Es wird nichts geschehen, was Sie selbst nicht zulassen können, Ihr Unterbewusstsein wird sich gegen alles, was nicht Ihrem Naturell entspricht, wehren. Sie sind ja auch nicht völlig weggetreten, wie viele behaupten. Nein, Sie werden alles um sich herum noch mitgekommen, nur stehen eben diese, ich nenne sie mal weltlichen Dinge, nicht mehr im Vordergrund. Sie werden eine Trance wie eine tiefe Entspannung erleben. Es ist hilfreich, sich eine Treppe vorzustellen, die Sie langsam, Schritt für Schritt, Stufe für Stufe heruntersteigen, und mit jeder Stufe können Sie mehr und mehr von dieser Welt loslassen, sich immer mehr entspannen, bis sie sich in einem völlig relaxten Bewusstseinszustand befinden.«

»Das hört sich doch ganz schön an.«, zögerlicher konnte man kaum sein.

»Ja, es wird mir immer wieder als ein wunderschönes Erlebnis geschildert. Außerdem können Sie jederzeit die Sitzung abbrechen. Sie können reden, mit den Händen winken, Sie können im Prinzip alles. Und wenn nötig, werde ich Sie sofort wieder sanft in diesen Raum hier, in die heutige Zeit hinein begleiten. Den Zeitpunkt können Sie jederzeit selbst bestimmen.«

»Ok.«

Und dann gingen wir es an.

Schon in den ersten Sitzungen der Rückführung fand ich Jahreszahlen und Ortsnamen heraus.

Und: dass ich verfolgt wurde. Immer wieder rannte ich um mein Leben. So fand ich die erste Erklärung für die Augen: auch heute noch werde ich verfolgt. Mit den Augen. Aber von wem, konnte ich mir nicht vorstellen.

Jedoch in der vierten Sitzung passierte etwas völlig unerwartetes. Die Gänsehaut, die sich über meinen Körper ausbreitete, schien für Stunden anzuhalten.

In meinem Geiste lief ich wieder durch die alten Gassen in Goßlingshusen. Wieder rief ich nach einem Mann namens Udo. Und da passierte es: Endlich öffnete sich die Tür jenes Hauses, an die ich seit der ersten Sitzung so verzweifelt hämmerte. Und der, den ich gerufen hatte, stand nun vor mir! Wir sprachen hektisch miteinander. Leider konnte ich den Inhalt des Gespräches nicht aus der Trance in mein Bewusstsein retten, auch sein Gesicht blieb mir damals noch ganz nebulös, aber - und das stockte mir das Blut in meinen Adern - seine Augen!

Diese Augen!

Das waren meine Begleiter, es waren die Augen, die ich immer wieder sah!

Ganz sicher! Er hatte genau diese Augen.

In diesem Moment konnte ich einfach nicht mehr ruhig liegen bleiben. Ich begann zu zappeln, zu winken, strampelte mit den Füßen und Frau Rüttgers brach die Sitzung wie besprochen sofort ab.

Das konnte doch nicht wahr sein!

Wie kamen denn diese Augen in meine Rückführung? Zu diesem Mann?

Frau Rüttgers versuchte, mich zu beruhigen, nichts sei geschehen, alles spielte sich nur in meinen Gedanken ab. Da hatte sie natürlich recht. Und doch fühlte es sich ganz anders an.

 

An diesem Tag begann die Geschichte. Obwohl ich nach wie vor nicht so recht an die Existenz eines früheren Lebens glauben konnte, geschah es, dass ich anfing, den Ort zu suchen, den ich in meiner Rückführung gesehen hatte.

Das gestaltete sich allerdings recht schwierig. Kein Atlas hatte diesen Ort eingezeichnet, in keiner Straßenkarte war er vermerkt. Selbst im Internet kam ich keinen Schritt weiter. Wo war bloß Goßlinghusen?

Bei einem der nächsten Treffen besprach ich mit Frau Rüttgers, ob sie mir nicht mit gezielten Fragen und Bitten an mein Unterbewusstsein weiterhelfen könnte. Und so bekam ich in einer weiteren Stunde Antworten auf meine drängenden Fragen.

Nur die Ergebnisse brachten mich zum verzweifeln. Ich hörte mich Germice, Germitzer Marca und Uchilheim sagen. Auch das waren wiederum Orte, die ich noch niemals gehört hatte und in keinen Karten vermerkt waren.

»Tut mir leid, ich kenne diese Orte auch nicht,«, sagte Frau Rüttgers nach einer Sitzung, »aber könnte es nicht sein, dass es sich um alte Namen noch bestehender Ortschaften handelt? Im 14. Jahrhundert hatten bestimmt viele Orte andere Namen als heute. Vielleicht sind sie keltisch oder indogermanisch. Sie müssen ja auch nicht in Deutschland liegen. Suche Sie weiter im Internet.«

»Ja, ich gebe nicht auf.«

»Ich bin gespannt.«

»Und ich erst!« 

Zu Hause gab ich die Orte Germice und Uchilheim in die Suchmaschine des Computers ein. Und diesmal mit Erfolg. Ich fand unter diesen Namen die heutigen Orte Hofgirmes und Hochheim. Und noch etwas bestätigte mich darin, dass es die Orte sind, die ich suchte: Die beiden Dörfer lagen nur wenige Kilometer voneinander entfernt! Und in Deutschland waren sie auch noch, in Hessen um genau zu sein. Nicht sehr geübt im Lesen topographischer Karten, konnte ich doch erahnen, dass die Gegend um diese Orte hügelig und waldig war, genauso wie ich es in Trance auch gesehen hatte. Gut - das mit dem Wald hätte sich innerhalb der Jahrhunderte geändert haben können, aber Hügel waren Hügel.

In mir reifte ein Entschluss. Ich reichte für Ende April Urlaub bei meinem Chef ein und machte mich auf die Fahrt nach Mittelhessen. Von Berlin aus ist das ein gutes Stück zu fahren. Rund fünfhundert Kilometer Autobahn. Ich hatte mir in der mittelhessischen Kleinstadt Gießen ein Hotelzimmer gebucht, also ganz in der Nähe der Orte, die ich vorhatte zu besuchen. Ich wollte nicht direkt in Hochheim oder Hofgirmes wohnen, wollte mich der Sache langsam nähern, daher war mir die Distanz wichtig.

Dort angekommen fragte ich an der Rezeption nach einem Ort namens Goßlingshusen, aber der Herr hinter dem Tresen versicherte, dass es einen Ort mit diesem Namen hier in der Gegend nicht gebe. Grübelnd und erschöpft von der langen Fahrt, zog ich mich in mein Zimmer zurück.

Es war ein komisches Gefühl, hier ganz alleine zu sein. Da saß die pummelige Stina auf einem Hotelbett und musste über sich selber den Kopf schütteln.

»Mannomann, Stina! Noch nie in meinem Leben habe ich so einen Quatsch gemacht!«, sprach ich mein Spiegelbild an der gegenüberliegenden Schrankwand an. »Was mach ich bloß hier, und das auch noch alleine?« In mir war ein Gefühl von Angst und Freiheit gleichzeitig.

Am nächsten Vormittag fuhr ich nach Hochheim. Der Ort war nur etwa zwei Kilometer von der Stadt entfernt. Ich stellte mein Auto auf einem Parkplatz mitten im Ort ab und lief einen breiten Bach entlang. Das Wasser darin war nur etwa Waden tief und man konnte die Steine und die Pflanzen am Grund sehen, so klar war das Wasser. Eingerahmt war er von zwei Straßen, der Hauptstraße und einer kleinen Straße, die mit Kopfsteinen gepflastert war. Das ist also Uchilheim. Ich dachte darüber nach, was ich denn hier finden wollte, während ich über eine kleine Brücke aus Holz, an deren Ende ein beeindruckender Baum, ein Walnussbaum wuchs, ging. Wirklich idyllisch hier. In der Mitte der Brücke blieb ich stehen, ließ meine Augen auf Wanderschaft gehen und meine Gedanken schweifen. Ich stand dort wohl eine ganze Weile und begann zu frieren. Ich zog meine Jacke enger um mich und nahm meine Umgebung wieder richtig wahr. Schafe blökten und Kinder schrien. Warum hatte ich das vorher nicht bemerkt? Mitten in dem breiten Bach standen unzählige Schafe, von einer handvoll Kindern in das Wasser getrieben, so wie es aussah, bekamen die Schafe ihre Wolle gewaschen. Eines der Kinder, ein Mädchen von etwa zehn Jahren, schaute in meine Richtung und winkte mir lachend zu. Ich erwiderte das Winken, ohne zu wissen, wem es galt, als ich plötzlich von einem ohrenbetäubenden Lärm von diesem Bild weggerissen wurde. Mit einem Ruck drehte ich mich um und sah einen Laster die Hauptstraße entlang poltern. »Himmel, habe ich mich jetzt erschreckt!«, sagte ich zu mir und wollte mich wieder den Kindern zuwenden, aber sie waren alle verschwunden. Das Mädchen, die andern Kinder, selbst die Schafe. Alles weg! Ungläubig schüttelte ich den Kopf und mit den Händen klammerte ich mich am Brückengeländer fest, meine Knie waren wie Butter. Was war das denn gewesen? Nun murmelte der Bach wieder in seinem Bett aus Beton, und das einzige Geräusch, das ich darüber hinaus wahrnahm, nachdem der Laster weg war, waren weitere Autos, die die Straße neben dem Bach entlang fuhren.

Verwirrt fand ich mich in dem Dorflokal Zur Linde wieder, bestellte einen Salat und beschloss, nach dem Essen schleunigst ins Hotel zurückzukehren. Meine Gedanken fuhren Achterbahn. Was hatte ich da gesehen? Es war wie in der Rückführung. Und dieses Mädchen. Wer war das? Ich war mir sicher, es schon irgendwo mal gesehen zu haben. Andererseits hatte ich mir das eben doch nur vorgestellt, eingebildet. Die ganze Szene war doch nur meiner Phantasie entsprungen.

Oder?

Auf dem Weg zurück zum Auto traute ich mich kaum mehr zum Bach hinüberzuschauen. Nur aus den Augenwinkeln sah ich, dass da nichts besonderes mehr war. War ich darüber erleichtert oder hatte ich mir insgeheim doch gewünscht, die andere Szene noch einmal zu erleben?

Zurück im Hotel fand ich die Nachricht vor, dass Svenja angerufen und um Rückruf gebeten hatte. Am Apparat erzählte ich ihr von der seltsamen Geschichte am Bach in Hochheim.

»Wow, das ist ja faszinierend! Und das gleich beim ersten Besuch dort!«

»Aber mir macht das Angst. Was ist, wenn ich hier in unverständlichen Bildern versacke? Was ist, wenn ich verrückt werde?«

»Nein Stina, das wirst du nicht. Und verrückt ist höchstens diese Geschichte. Du hast ein weiteres Puzzlestück zu deinem früheren Leben gefunden. Das ist aufregend! Und morgen hast du den Termin mit dem Geschichtsforscher in ... wie heißt das Dorf noch gleich?«

»Hofgirmes.”, half ich ihr auf die Sprünge “Germice.«

»Hast du herausgefunden, wo der andere Ort ist - dieses Husen?«, fragte sie weiter.

»Goßlingshusen. Nein, ich habe an der Rezeption gefragt, aber diesen Ort scheint es hier nicht zu geben. Vielleicht bin ich hier doch falsch.«, zweifelte ich weiter.

»Mag ja sein, aber das wirst du herausfinden. Außerdem kann es kein Zufall sein, dass die zwei Orte, an die du dich in deiner Rückführung erinnern konntest, so nah beisammen liegen. Ich glaube, du bist richtig. Ich würde so gerne bei dir sein. Mist, dass ich nicht frei bekomme!«

»Ja, finde ich auch, aber ich werde dir alles berichten.«

Svenja sprühte wie immer vor Energie, und ihre Furchtlosigkeit fand ich bewundernswert. Ich war allerdings auch sehr gespannt darauf, was mich hier noch erwarten würde und ob ich Spuren meines - vielleicht - früheren Lebens hier finden würde. Was ich mit den Spuren machen würde, falls ich wirklich welche fände, darüber machte ich mir keine Gedanken.

An diesem Abend sah ich die Augen wieder. Sie lachten.

 

Ganz früh erwachte ich am nächsten Morgen mit einem flauen Gefühl in der Magengegend. Das Frühstücksbuffet wurde gerade erst aufgebaut, freundlicherweise durfte ich mir schon etwas nehmen.

Gegen neun Uhr fuhr ich nach Hofgirmes. Linngau, wie es eingemeindet hieß. Der Weg führte mich wieder durch Hochheim, über eine Ausfallstraße durch eine ausgedehnte Ebene, nur von weitem umrahmt von waldigen Hügeln, nach Alsbach und Dommershausen und, immer den Schildern folgend, schließlich nach Hofgirmes. Dort wollte ich mich um zehn Uhr mit Herrn Hoermann, dem Leiter des Heimatmuseums und Vorsitzenden des Heimatvereins treffen. Natürlich war ich viel zu früh da und lief noch ein wenig durch die engen Straßen und Gassen des alten Dorfkerns.

Ich betrachtete die Häuserzeilen. Sie sagten mir allesamt nichts. Verkleidete oder verputzte Fachwerkhäuser nahm ich an. Ich ertappte mich dabei, wie ich insgeheim darauf wartete, wieder Bilder zu sehen, die mich darin bestätigen könnten, dass ich hier richtig war. So wie gestern in Hochheim.

Ich schaute mir die Häuser genauer an. Welche Häuser hatten im Jahre 1353 schon gestanden? »Kein einziges!«, schoss es durch meine Gedanken. In manchen Fachwerkbalken war ein Baujahr eingemeißelt. 1876, 1911, 1896, und da noch eine Inschrift 1923. Nein, es ist unmöglich, mich an eines zu erinnern, weil sie eben noch nicht standen.

 

»Guten Tag, Frau Kurz, haben Sie leicht hierher gefunden, wie war die Fahrt?«, begrüßte mich ein ausgeschlafener und sehr agiler älterer Herr mit festem Handschlag, der sich als Herr Hoermann vorstellte.

»Guten Morgen, danke, der Ort ist gut ausgeschildert, habe alles leicht gefunden.«

»Es freut mich immer wieder, wenn jemand, und gerade junge Leute wie Sie, Interesse an unserer Heimatkunde haben. Kommen Sie denn hier aus der Gegend?«

»Nein, ich komme aus Berlin.« Mein Herz fing an zu bollern. Ich wusste, jetzt würde ein erstauntes Gesicht kommen - und Fragen. Zum Beispiel, woher das Interesse an Hofgirmes, an der Geschichte dieser Gegend herrührt, und dann müsste ich mir eine Antwort ausdenken, eine, bei der ich mich in seinen Augen nicht völlig lächerlich machte.

Aber nichts dergleichen geschah. Überhaupt nicht erstaunt fuhr er fort zu erzählen und schlug gleich vor, wir könnten ja erst mal in das Museum gehen, damit ich mir einen Überblick über die Ausmaße der Ausgrabungen, die Zeittafeln und die Funde machen könne. Folgsam ging ich mit hinein und beschaute mir für einen Moment die Ausstellungsstücke, überflog die vielen Zeitungsartikel, die eingerahmt an den Wänden hingen.

Als ich das alles auf mich wirken lies, wurde mir einiges klar: Es war gar nichts Außergewöhnliches, dass Leute von weit her in das Museum kamen. Denn ich befand mich an einer der bedeutendsten archäologischen Fundstätte Hessens. Hier wurde ein alter Stützpunkt aus römischer Zeit gefunden und ausgegraben. Um Christi Geburt lebten hier, weit oberhalb des Limes, was wohl eine Sensation war, Römer und Germanen friedlich zusammen und betrieben Handel und Ackerbau.

Außerdem - so unterrichteten mich die Schautafeln - war hier ganz in der Nähe der Dünsberg. Diesen Namen hatte ich schon in den Karten gelesen, als ich mich auf die Fahrt hierher vorbereitete. Ich war mir sicher, dass das der Berg war, den man hinter Hof Hainbach in den Wäldern sah. Dort hatte man ein keltisches Oppidium ausgegraben, eine keltische Stadt. Ich befand mich also an einem extrem geschichtsträchtigen Ort.

Und deshalb kamen immer wieder Fachleute, Laien oder auch Studierende der Archäologie und der Vor- und Frühgeschichte hierher, die sich darüber informieren wollten. Deshalb war Herr Hoermann gar nicht überrascht, eine Besucherin aus Berlin zu haben.

Ich überlegte, wie ich an Informationen herankommen könnte, ohne ihm von der Rückführung zu erzählen, die selbst für mich zu phantastisch klang, als dass man mich damit ernst nehmen könnte. Aber mir fiel einfach nichts ein. Und schließlich bin ich ja auch deswegen den weiten Weg hierher gekommen. Also fasste ich all meinen Mut zusammen und fragte: 

»Kennen Sie einen Ort namens Goßlingshusen?«

Nach einem kurzen Moment des Zögerns ging Herr Hoermann auf mich zu, schaute mich forschend an und meinte: »Der Name passt aber nicht in die römische Zeit. Woher kennen Sie ihn?«

»Aus… aus einem anderen Zusammenhang.«, stotterte ich.

»Und ich dachte, Sie seien eine Studentin, die sich über die Ausgrabung informieren möchte.«, sagte er in seinem für mich seltsam klingenden, rollenden Dialekt.

»Ja, das habe ich gemerkt, aber ich studiere nicht Geschichte, ich bin Reiseverkehrskauffrau aus Berlin. Und wenn ich Ihnen jetzt eine ganz verrückte Geschichte erzähle, hoffe ich, Sie urteilen nicht vorschnell über mich. Sie kennen also Goßlingshusen?«

»Ja, das ist der alte Name von Hof Hainbach. Das ist ein kleiner Flecken etwa sechs Kilometer nördlich von hier. Warum interessieren Sie sich für ihn?«

»Das ist ja gerade die unglaubliche Geschichte. Haben Sie schon mal was von Rückführung gehört, von der Möglichkeit, ein früheres Leben von sich selbst kennen zu lernen?«

»Sicher, sicher. Aber was hat das…« Mitten im Satz machte er eine kleine Pause. »Wollen Sie etwa sagen, Sie denken, Sie hätten ein früheres Leben einmal hier verbracht?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich habe, seit Sie sagten, Sie kennen diesen Ort, ein unheimliches Drücken in der Magengegend und Gänsehaut überall. Wissen Sie, ich bin vor einiger Zeit zu einer Therapeutin gegangen, die mich vielleicht in so was wie mein früheres Leben zurückversetzt hat. Und ich konnte mich darin an die Orte namens Uchilheim, Germice und eben Goßlingshusen erinnern. Die ersten zwei fand ich hier. Aber Goßlingshusen konnte ich nirgends finden.«

»Das ist, wie gesagt, der alte Name eines kleinen Fleckens, ein paar Kilometer nördlich von hier, gehört nicht mehr zu Linngau, sondern zur Nachbargemeinde Beberach. Es ist mehr eine Hofstätte, umfasst heute etwa acht Häuser und heißt, wie gesagt, Hof Hainbach. Aber im frühen Mittelalter gab es den Ort wohl noch nicht. Welches Jahr interessiert Sie?«

»Ich war eine erwachsene Frau im Jahre 1353.«

»Wenn ich mich recht entsinne, war die Ersterwähnung im Lorscher Codex im Jahre 1300. Ziemlich spät für Orte in dieser Gegend hier.«

Und noch bevor er weiter ausholte, um sein umfassendes Geschichtswissen an den Tag zu legen, fragte er: »Wollen wir hinfahren?«

Stumm nickte ich und sah Neugierde in seinem Gesicht. Was er wohl in meinem sah?

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